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Der alte Adler

Der alte Adler war müde geworden. Zuviel hatte er schon auf seiner langen Reise gesehen.
Früher, als er jung war und noch ein prächtiges Gefieder hatte, galt er als der stolzeste Herrscher des Himmels,
der pfeilschnell und elegant die beste Beute machte. Und hatte immer etwas von oben herab auf die anderen Vögel geschaut.
Jetzt waren seine Federn wenig geworden, struppig und angegraut.

Er strich durch die Luft und ließ sich von den Winden tragen, egal wohin, irgendwo war er bisher immer gut gelandet.
Erschöpft erblickte er einen mächtigen Baum und flog mit letzter Kraft dorthin.
Er ließ sich auf der Spitze der alten Eiche nieder und atmete tief durch.
Im Mondlicht ordnete er sein Federkleid, lächelte etwas wehmütig als er eine weitere graue Feder entdeckte
und rupfte diese aus. Die Feder fiel ihm aus dem Schnabel und schwebte sachte zu Boden.
Doch, statt ruhig liegen zu bleiben, schaukelte sie, wie von Wellen getragen, hin und her.
 
Verwundert besah sich der Adler dieses Schauspiel eine Weile und beschloss dann,
sich das doch einmal näher an zu schauen. Er breitete seine Schwingen aus, ließ sich vom sicheren Halt gleiten
und eine warme Böe trug ihn nach unten.

Aber, was war das? Da war gar kein Boden unter ihm, sondern Wasser! Die Eiche stand in einem See.
Erschrocken begann er wie wild mit den Flügeln zu schlagen, doch es nützte nichts, er sank ein.
Immer tiefer und tiefer, immer dunkler wurde es um ihn.
„So soll es also sein,“ dachte er traurig. „Ich, der stolzeste aller Vögel, ertrinke jämmerlich.“

Er fand sich mit seinem Los ab und hörte auf sich wehren. In diesem Moment aber, als er nach gab,
wurde ihm ganz warm und er fühlte sich geborgen und sicher. Dieses Gefühl war ihm seltsam vertraut,
aber lange hatte er es nicht mehr erlebt und das machte ihn glücklich.
„So fühlt es sich also an zu sterben“, dachte der Adler. „Nun gut, ich bin einverstanden und füge mich.“
 
„Nein“, hörte er eine sanfte Stimme. „Das ist nicht der Tod“.
„Aber was passiert hier dann?“ fragte der Adler verwirrt.
Die Stimme sprach: „Dein Leben lang warst du überheblich, stets davon überzeugt, besser als der Rest zu sein,
ein Herrscher über all die Anderen. Erst jetzt, wo du gemerkt hast, dass nichts von dem eine Bedeutung hat,
dir hier nichts von dem nützt, was dich aus gemacht hat und es kein Entrinnen gibt, erst jetzt, weißt du was,
was Geborgenheit bedeutet. Nicht wahr?“
 
„Ja“, nickte der Adler „So geborgen und wohl wie jetzt habe ich mich noch nie gefühlt. Sag, wer bist Du?“
Die Stimme antworte: "Ich... bin die Ewigkeit. Doch all zu oft werde ich als Tod, als Endgültigkeit gesehen.
Weil nur Wenige verstehen, dass wir ein und dasselbe sind. Denn wo er beginnt, fange ich erneut an.
Wir sind gemeinsam der Kreislauf des Lebens. Und dieser endet nie."
 
"Danke!" sagte der Adler aus ganzem Herzen. Und stieß sich mit aller Kraft vom Grund des Sees ab.
Er schoß aus dem Wasser, übermütiger und lebendiger, als er es jemals zu Jugendzeiten war, dem hellen Mond entgegen.
 
Und auch, wenn man sehr genau hinschaut, kann man nicht erkennen, ob das Gefieder des Adlers heller glänzt
oder das Mondlicht…
©Nadine Baum

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