Der kleine Ärger
Missmutig saß der kleine Ärger bei seinem Menschen auf der Schulter und beobachtete ihn beim Lesen.
Ab und zu sah sein Mensch auf, schaute in die Natur, lächelte dabei zufrieden und widmete sich wieder seinem Buch.
Der kleine Ärger ärgerte sich sehr. Egal, was er in der letzten Zeit ausprobiert hatte, es half alles nichts,
sein Mensch wurde immer glücklicher und er selber immer kleiner. Wenn das so weiterging, dann war er bald gar nicht mehr da!
Früher war es einfacher, er brauchte seinem Menschen nur einige Worte ins Ohr flüstern, so etwas wie:
'Du darfst hier nicht rumsitzen, du musst noch Wäsche machen und die neuesten Nachrichten hast Du auch noch nicht angeguckt!'
Doch jetzt ignorierte ihn sein Mensch einfach! Dabei hatte er es sogar damals öfter geschafft mit solchen Worten eine schöne Magenschleimhautentzündung zu produzieren. Jetzt bekam sein Mensch nur noch höchst selten mal leichte Bauchschmerzen.
Sauer erinnerte er sich an das letzte Treffen des Ärgerverbandes. Die anderen Ärger lachten ihn aus, weil er so klein geworden war. Und prahlten damit, was ihre Menschen so alles hatten. Sie erzählten von Arzt- und Krankenhausbesuchen, weil sie ihren Menschen große Krankheiten beschert hatten. Einige erzählten wie sie Depressionen produziert hatten und die Größten von Ihnen brüsteten sich mit Magenkrebs. Alles natürlich in sicherem Abstand zum kleinen Ärger, denn sie hatten Angst davor, dass die Zufriedenheit seines Menschen ansteckend sein könnte.
Überhaupt, diese blöde Zufriedenheit war riesig geworden und folgte ihm jetzt immer wie ein Schatten. Er wurde sie einfach nicht los. Auch jetzt wieder sah er sie strahlend neben SEINEM Menschen sitzen, mit fröhlichen Gedanken spielen und ihn auf einen Vogel hinweisen, der gerade in der Vogeltränke badete. 'Pah!' dachte der kleine Ärger. Doofe Vögel, doofe Zufriedenheit.'
Und dann wurde er schrecklich traurig. Was sollte er denn tun, wenn ihn keiner mehr brauchte. Dann könnte er sich ja auch ganz auflösen. Er begann durchsichtig zu werden und war fast nicht mehr da. Die Zufriedenheit aber, die immer einen Blick auf den Ärger hatte, unterbrach aprupt ihr Spiel und sagte zu ihm:" Stopp! Was machst Du denn da?" "
Ich gehe!", antwortete der kleine Ärger erbost."Hier braucht mich niemand mehr! Ihr kommt ja sehr gut ohne mich zurecht."
Die Zufriedenheit schüttelte den Kopf.
"Oh nein, das geht nicht. Du darfst Dich nicht komplett auflösen. Dann fehlt das Gleichgewicht.
Wir bedingen uns alle gegenseitig. Unser Mensch braucht alle seine Gefühle.
Dich braucht er als kleinen Impuls, um etwas zu verändern. Du zeigst ihm, was es noch zu verbessern gilt.
Ebenso wie die Traurigkeit. Nur darfst Du leider nicht zu groß werden, so ist es nicht gedacht.
Denn wenn Du zu groß wirst, dann stirbt unser Mensch. Und wir mit ihm. Verstehst Du?"
Der kleine Ärger wurde nachdenklich. So hatte er es noch nie gesehen. Er hatte sich zwar ab und zu auf den Ärgertreffen gewundert, weil manche Ärger, die sehr wegen ihrer Größe bewundert wurden, plötzlich nicht mehr da waren, aber darüber wurde nicht geredet. Jetzt verstand er.
"Das werde ich sofort allen Anderen erzählen", sagte er und hüpfte von der Schulter seines Menschen.
Im Weggehen drehte er sich noch mal um und rief zur Zufriedenheit hinüber:
"Übrigens, der Vogel eben hat unserem Menschen auf den Kopf gekackt."
Die Zufriedenheit stutzte und fing an zu lachen. "Du Schelm!" antwortete sie,"so ganz kannst Du es nicht lassen.
Doch schau mal, jetzt ist sogar durch dich unsere Fröhlichkeit wieder ein wenig gewachsen."
©Nadine Baum