Hüter der Gedanken
Vor langer, langer Zeit gab es einen Hüter des Buches der schlechten Gedanken. Dies war eine sehr ehrenvolle Aufgabe und die Menschen sorgten gut für ihn.
In dem Buch tauchten über den Tag verteilt wie von Zauberhand alle schlechten Gedanken, die die Menschen über sich und andere gedacht hatten, als rote Schrift auf und füllten die Seiten. Jeden Abend setzte der Gedankenhüter, so wurde er genannt, sich an seinen Tisch, nahm seinen Federkiel, tunkte ihn in die grüne Tinte und begann, das Buch zu säubern. Dazu reichte es, wenn er einen guten, liebevollen Satz hinein schrieb und in kurzer Zeit, waren alle Seiten leer. Alle Menschen wurden von ihren negativen Gedanken gereinigt und konnten ruhig schlafen.
Damals waren die Menschen noch gut zueinander, so dass er nicht allzuviel Arbeit hatte. Und ihm machte sein Tun große Freude. Im Laufe der Jahrzehnte aber, in dem Maße, wo sich die Menschen weiter entwickelten und neue Technologien entstanden, füllten sich die Seiten des Buches immer rascher und der Hüter kam mit seinem Wirken kaum noch nach. Zusätzlich vergaßen ihn die Menschen immer mehr, seltener kam jemand zu Besuch und wenige sorgten nur noch für ihn. Sie hatten schlicht keine Zeit mehr, da sie, durch das Voranschreiten der Technik immer mehr arbeiten mussten.
Dies machte sie natürlich auch unzufriedener und die negativen Gedanken nahmen unvorstellbare Ausmaße an.
Eines Abends saß der Hüter, er hatte bereits länger niemanden mehr gesehen, sehr lange vor dem Buch, schaute erschöpft zu, wie es sich rasend schnell füllte, legte seine Feder beiseite und sagte: "Dagegen komme ich nicht mehr an. Mir wollen auch keine liebevollen Sätze mehr einfallen. Die Menschen haben mich vergessen. So sollen sie dann wohl selbst für ihre Gedanken sorgen."
Traurig klappte er das Buch zu, legte sich in sein Bett und fiel in einen sehr langen und tiefen Schlaf.
Auf der Welt ging es derweil fürchterlich zu. Aus kleinen Streitereien entbrannten schlimme Kriege, die Menschen verbitterten, jeder kümmerte sich nur noch um sich und sie verehrten einen Gott, der sich 'Geld' nannte.
Am Schlimmsten aber litten die Kinder. Niemand hatte mehr für sie Zeit. Alle arbeiteten nur noch um sich und 'Geld' zufrieden zu stellen. Darum wurden es auch immer weniger Kinder…
Diese aber wurden viele Stunden am Tag in Häuser gesteckt, wo sich zwar um sie gekümmert wurde, aber Liebe und Aufmerksamkeit gab es dort nicht. Viele von ihnen passten sich an, weil sie ihren stets müden und genervten Eltern nicht noch mehr zur Last fallen wollten. Aber einige Ältere von ihnen, die es von früher noch anders kannten, hielten es nicht mehr aus, so viel eingesperrt zu sein und beschlossen fort zu laufen. Sie konnten und wollten so nicht mehr leben, denn ihre Eltern hatten, so fühlte es sich für sie an, alles Interesse an Ihnen verloren. So packten sie ein paar Dinge zusammen und zogen los.
Auf ihrer Reise kamen sie an eben jenem Berg an, wo die Hütte des Hüters stand. Sie war kaum noch zu erkennen, so zugewachsen war sie. Neugierig bahnten sie sich einen Weg durch das Gestrüpp und der Mutigste von ihnen drückte gegen die Tür, die sich quietschend öffnete. In der Hütte fanden sie im Bett den Hüter, der immer noch tief und fest schlief. Auch mit Schütteln und Rufen war er nicht zu wecken. Als sie sich weiter umsahen entdeckten sie das Buch der schlechten Gedanken und sahen hinein. Es war bis zur letzten Seite voll geschrieben, nur ein kleiner Platz ganz unten war noch frei.
"Davon hat mir meine Mutter früher mal erzählt," sagte ein Mädchen. "Sie seufzte immer ganz laut dabei und meinte dann, 'ach, wenn es das Buch und den Hüter doch noch gäbe. Aber er hat uns wohl vergessen' und wurde dann noch trauriger." Sie schauten auf das Buch. Ein Junge legte seine Hand darauf. "Es fühlt sich warm an und summt irgendwie", rief er überrascht. Ganz nah ging er mit dem Ohr daran und lauschte angestrengt. Leises Wispern war zu hören, es klang wie: "Aua, das tut so weh…" Spontan streichelte das Kind mit der Hand über das Buch und flüsterte beruhigend: "Oh, du armes Buch. Brauchst du Hilfe?" Auch die anderen Kindern begannen nun mitfühlend das Buch zu berühren.
Ein Poltern hinter ihnen ließ sie erschrocken herum fahren. Der Hüter hatte sich im Bett aufgesetzt, sah die Kinder an und rief aus: "Kinder! Natürlich, ich hätte es wissen müssen. Es geht immer nur über die Kinder." Verwirrt sah der kleine Trupp den alten Mann an.
"Schreibst Du jetzt wieder in Dein Buch, damit alles gut wird?" fragte das Mädchen.
"Schreibst Du jetzt wieder in Dein Buch, damit alles gut wird?" fragte das Mädchen.
"Nein", antwortete der Hüter. "Ich kann das nicht mehr machen. Meine Kraft und mein Glauben in die Menschen reicht dafür nicht mehr aus. Aber ihr zusammen seid noch so voller Liebe und Hoffnung, ihr werdet es tun können."
Ernst sah er sie an: "Schaut, ihr habt es eben schon zum Stoppen gebracht. Allein mit eurem Mitgefühl. Es scheint, ihr braucht nicht einmal Tinte dafür." Sie sahen auf das Buch und tatsächlich hatte die rote Schrift aufgehört das Buch zu füllen. "Sagt ihm noch etwas Liebes." Sie sahen gespannt auf das Buch und ein Mädchen sagte: "Du bist ein besonders schönes Buch!" Innerhalb von Sekunden lagen 3 Seiten weiß vor ihnen. Aufgeregt und fröhlich riefen die Kinder nun durcheinander und übertrafen sich darin, dem Buch liebe Dinge zu erzählen. Ein Schüchternes sagte gar nichts, dachte aber voller Inbrunst: 'Es ist so wundervoll dass es uns gibt, ich hab euch alle so lieb.' Ein warmer Wind wehte durch die Hütte und blätterte alle Seiten bis zur ersten Seite zurück. Das Buch war komplett leer! Staunend standen alle um es herum. "Was ist passiert?" fragten sie.
Der Hüter sagte mit Tränen in den Augen: "Einer von euch hat eben entdeckt, dass unsere liebevollen Gedanken, aus reinem Herzen und für alle empfunden, so viel mehr kraftvoller sind, als jedes ausgesprochene böse Wort. Du," sagte er zu dem schüchternen Jungen. "nimm das Buch als Erinnerung mit. Ihr alle, zeigt es euren Eltern und allen Anderen, damit sie es glauben und verstehen, wie sehr wir selbst unser Leben zum Guten wenden können, wenn wir achtsam und liebevoll mit uns sind. Meine Aufgabe hier auf Erden ist erfüllt." Damit verschwanden er und die Hütte und die Kinder fanden sich plötzlich mit dem Buch in ihrer Heimat wieder.
Freudig liefen sie in jedes Zuhause, dass sich bereits schon wieder sehr wie früher anfühlte, da ja das Buch noch ziemlich leer war, und erzählten den Erwachsenen, was sie erlebt hatten. Und weil es sich die Menschen danach zur Routine machten, aufmerksam sich und ihre Gedanken zu beobachten und ihre Liebevollsten täglich aufzuschreiben, blieb auch ihrer aller Leben liebevoll.
So wurde das eine Buch bald überflüssig. Doch bewahrten sie es sorgsam als Erinnerung auf.
Denn niemand wollte mehr, dass es jemals wieder so schlimm wird wie es einst war...
Denn niemand wollte mehr, dass es jemals wieder so schlimm wird wie es einst war...
©Nadine Baum