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Vergessene Kinder

Sonnenschein, blauer Himmel, fast sommerliche Temperaturen, was für ein schöner Tag. Aber irgendetwas bedrückte mich wie immer, ich fühlte mich leer und traurig. Also beschloss ich spazieren zu gehen. Auf meinem Weg durch den Wald verirrte ich mich und kam an einer Hütte vorbei. Komischerweise schien die Hütte in zwei  Bereiche aufgeteilt zu sein, auf jeder Seite war eine Tür. Neugierig umrundete ich die Hütte und vernahm aus dem linken Teil Geräusche die nach fröhlichem Lachen, zauberhafter Musik und Stimmengewirr vieler glücklicher Menschen klang. 

'Oh, wie schön, eine Party', freute ich mich. Das war genau das Richtige um meine Stimmung anzuheben. Trotzdem beschloss ich noch mir die rechte Seite anzuswehen. Diese wirkte fast verlassen, etwas dunkles, trauriges ging davon aus und ab und zu hörte man ein leises Wimmern. 'Nein', dachte ich entsetzt, 'da will ich auf keinen Fall rein!' und ging schnell wieder zurück zur anderen Seite. 

Ich klopfte zaghaft an die Türe und mir wurde geöffnet. Vor mir stand ein ca 5 jähriges Kind, dass vor Lebensfreude leuchtete und mir seltsam bekannt vorkam, mich mit weisen Augen anschaute und sagte: "Hey Du, schön dass Du da bist, wir haben schon so lange auf Dich gewartet." Verwirrt sah ich es an und fragte:"Wir? Kennen wir uns?" "Aber klar!", lachte es. "Aha", sagte ich. "Ich kann mich zwar nicht erinnern, aber es wird wohl stimmen. Darf ich herein?" Ernst sah mich das kleine Mädchen an und schüttelte den Kopf. "Nein, tut mir leid. Bevor Du hier hereinkommen kannst, musst Du zuerst durch die andere Tür in den anderen Teil gehen." "Oh" sagte ich enttäuscht und mir war nach Weinen zu Mute. Mitfühlend schaute die Kleine mich an, kam auf mich zu, umarmte mich und flüsterte sanft:"Ach komm schon, Du weißt doch selbst, dass Du das schon viel zu lange vor Dir hergeschoben hast. Glaub mir, es lohnt sich, Du brauchst nur ein wenig Mut. Schau, ich zeig Dir schnell was, dann schaffst Du das auch!" 

Mit seinen kleinen Händchen machte es einige Bewegungen vor meinen Augen und es entstand eine kleine schillernde Blase, in der sich etwas bildete. Angestrengt schaute ich hinein und sah ein Kind darin, dass seine ersten Schritte unternahm. Immer wieder fiel es hin und weinte frustriert, stand aber immer wieder auf und machte weiter. Bis es schließlich voller Freude mehrere Schritte schaffte. 

"Das bist Du. Um Laufen zu lernen musstest Du immer wieder fallen, aber Du hast es so lange probiert, bis Du es konntest. Das war Dein Wille und Dein Mut, den Du während des Alterns und durch viele Erfahrungen und daraus entstandenen Ängsten vergessen hast. Es wird Zeit, dass Du Dich mit diesen Ängsten auseinander setzt. Was Du damals konntest, das kannst Du heute auch. Also los, ich geb' Dir diese Blase mit, als Stütze. Danach kommst Du wieder zu uns, vergiss nicht, wir warten auf Dich!" Die Kleine legte ihre Hand an meine Brust und die Blase legte sich wie ein Pflaster wärmend auf mein Herz.

Die Tür schloss sich, also drehte ich mich mit einem tiefen Seufzer um und ging zur anderen Seite der Hütte. Warum ich es tat, weiß ich nicht, aber es schien wichtig zu sein. Vorsichtig klopfte ich an die Tür. Sofort ging sie auf und ängstlich tat ich einige Schritte in den fast dunklen Raum. Hinter mir knallte die Tür mit einem lauten Rumms zu. Erschrocken fuhr ich herum und legte die Hand auf mein wild pochendes Herz. Ich legte meine Hand darauf und fühlte die Wärme der Blase. So ermutigt ging ich einige Schritte weiter. In einer Ecke sah ich ein weiteres kleines Kind, dreckig und mit zerlumpten Kleidern, was leise jammernd vor und zurück schaukelte. Ich kniete mich vor es hin und fragte: "Was hast Du, kann ich Dir helfen?" "Du!" sagte es weinend "Du hast mich so lange alleine mit allem gelassen. Damals hast du einfach weg geschaut und Deine Erinnerung an mich gelöscht." "Niemals!", sagte ich entsetzt, "wer bist Du?" "Ich bin Du, und Du hast mich einfach vergessen. Und die Anderen auch! Wie konntest Du nur?! Wir wollten doch immer zusammen bleiben," antwortete es leise.

Und plötzlich verstand ich. In bestimmten Situationen die ich damals nicht aushalten konnte, hatte ich einfach etwas ausgeblendet. Um mich zu schützen. Spontan nahm ich das kleine Mädchen in die Arme und sagte zu ihr:"Du hast recht, es tut mir leid! Damals konnte ich nichts tun, aber jetzt bin ich groß, jetzt pass ich auf Dich auf, dass euch niemand mehr etwas tun kann. Das verspreche ich Dir und allen Anderen!" Die Kleine schob mich zurück und sah mich an. "Gut", sagte sie, aber das wird nicht reichen. Du wirst Dir auch mit mir und allen Anderen alle Situationen anschauen müssen. Denn ohne dies, ohne Deine Erinnerung daran, ohne den Schmerz, der damit verbunden war, wirst Du nicht heilen. Und nie frei werden. Bist Du mutig genug um das zu schaffen?" Ich schluckte, fühlte noch einmal nach meiner Blase und die Erinnerung an meine ersten Schritte und erwiderte:"Ja! Ja, ich kann das!" 

Sie lächelte, stand auf, nahm meine Hand und sagte:" Dann los! Wir schaffen das zusammen!" Auf dem Weg durch die Hütte, die innen viel größer war als sie von außen aussah, entdeckten wir noch einige Kinder und auch Jugendliche in unterschiedlichen Altersstufen, die mir unsere Geschichte erzählten. Alle waren mit Leid und viel Schmerz verbunden, der manchmal unerträglich schien, aber alles machte mich ein Stück heiler und wieder vollständig. Als wir am Ende des Raumes angekommen waren, gab es keine ungeheilten Teile mehr von mir und alle jüngeren Versionen fühlten sich verstanden und geliebt. Und ich fühlte mich stark, glücklich und mutig. 

Vor mir tauchte weitere Tür auf, an die ich fröhlich klopfte. Angst kannte ich nicht mehr, was sollte mir schon passieren, ich hatte mich wieder gefunden. Ich sah mich nach meinen Anteilen um, doch sie waren verschwunden. Als die Tür sich öffnete stand das kleine Mädchen vor mir, dass mir die Blase geschenkt hatte und sprang mir glücklich in die Arme. "Oh ich freue mich so, Du hast es geschafft! Ich wusste es, ich hab immer an Dich geglaubt, komm rein, lass uns feiern!" Sie zog mich aufgeregt hinter sich her und rief:"Schaut nur wer da ist!" Der Raum war hell erleuchtet und überall standen die jüngeren Teile von mir, doch wie verändert sahen sie aus! Alle waren fröhlich und strahlten und egal wen ich ansah, dort  spürte ich Liebe und Vertrauen. "Ich hab mich gar nicht vorgestellt" grinste das kleine Mädchen verschmitzt. "Ich bin Deine Freiheit. Um mir mir zu feiern und bei mir zu sein, musstest Du durch Deine größten Ängste." 
©Nadine Baum

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