18.06.2024
"Ich brauche dich"... "kann ohne dich nicht leben"... "meine bessere/andere Hälfte"…
Das ist Umgangssprech in vielen gängigen Beziehungen. Woanders wird der eine Seelenpartner gesucht der für einen ‘bestimmt’ ist und der, hat man ihn endlich gefunden, einen ‘komplettiert’. Da kommt dann eben vorher niemand anderes in Frage und so lange bleibt man lieber alleine.
Auch wenn man so ebenfalls nicht glücklich ist...
Ich war überall dort auch schon, hab das früher ebenfalls als normal empfunden und war sogar oft geschmeichelt. Wenn ich aber heute so etwas höre gehen bei mir sofort innerlich die Sirenen an. Ich weiß, dass es ausdrücken soll, wie sehr wir jemanden lieben, dennoch impliziert es eine starke Bedürftigkeit.
Dieser Mensch ist noch nicht ganz in seinem eigenen Leben angekommen und weiß nicht, was es bedeutet, die volle Verantwortung für sich zu übernehmen.
Er sendet damit immer eine Erwartung und will einem anderen Menschen unbewusst die Verantwortung für den eigenen seelischen Zustand zu schieben.
Diese Last bin ich nicht mehr zu tragen bereit, denn das wird kein gemeinsames, gleichberechtigtes Leben werden, in dem jeder sich auch selbst verwirklicht, sondern eine Reise im Bedürftigkeitsmodus. Und es ist nicht bedingungslos.
Wenn wir unsere Wertigkeit und damit auch unser Gefühlsleben daran fest machen, was der Partner uns zu geben bereit ist, gehen wir grundsätzlich mit Forderungen und Erwartungen an einen anderen Menschen in eine Beziehung. Und das trifft nicht nur auf klassische Liebesbeziehungen zu, sondern auch auf Freundschaften, wobei wir da etwas mehr tolerieren können, dass jemand nicht unser Erfüller ist. Bei Paarbeziehungen aber ist es so, dass wir schrecklich enttäuscht sind, stellt sich irgendwann heraus,
dass es eben wieder nicht dieser Mensch ist, der uns komplettiert. Weil er ja unsere Erwartung nicht erfüllt hat.
Wir sehen gar nicht, dass niemand dafür hier ist, um uns zu erfüllen oder zu vervollständigen. Wir sehen das Gegenüber im Prinzip gar nicht vollumfänglich, sondern lediglich das was wir auf es projizieren. Denn ist der eigene Selbstwert gestört, versuchen wir den Partner als Teil von uns zu übernehmen und können ihn nicht mehr als Individuum mit eigenen Vorstellungen, Wünschen und Zielen betrachten. Zeigt er zu irgendeinem Zeitpunkt deutlich auf- meist dann, wenn die erste Illusion verflogen ist - dass er sich nicht anzugleichen und einzunehmen gedenkt, zeigt sich auch die ungesunde Abhängigkeit.
Dabei haben wir etwas Elementares vergessen bzw nie gelernt:
Es sind nie die anderen Menschen, die enttäuschen. Sondern unsere verqueren Erwartungen an sie.
Und übergreifend auf das Große Ganze kann man auch sagen, dass nichts von Außen enttäuschen könnte, würden wir unsere Erwartung nicht darauf projizieren.
Was wäre nun wenn…
Du dich auf jemanden einlässt, der Dich offenkundig nicht braucht? Zunächst mal würde ich euch aus ganzem Herzen gratulieren.
Denn es sagt viel über euer beider geistige Gesundheit aus. Dann kannst du es befreit annehmen, ohne dass es dir den Boden unter den Füßen weg zieht, weil du ebenso frei und selbstsicher sagen kannst:
"Ich brauche dich auch nicht in meinem Leben, um glücklich zu sein, ich bin es ohne dich.
Ich traue mir selbst zu meine seelischen Lasten zu tragen und deshalb kann ich auch dich deine tragen lassen.
Weil ich mich liebe wie ich bin, liebe ich auch dich so wie du bist. Und weil das so ist, werde ich keinem von uns den Zwang antun, sich für den anderen aufzugeben.
Ich hab mich bewusst für dich entschieden, um mit dir gemeinsam einen Teil des Weges zu gehen. Lass uns doch schauen, wie weit wir zusammen kommen. Ohne Müssen und Sollen. Ohne Druck.”
Denn eine Beziehung will ja im besten Fall leicht sein und Freude schenken. Sie will uns Lebendigkeit, ein Wohlgefühl geben.
So dass wir uns auch in ihr, und unabhängig von ihr, selbst weiter entwickeln können, statt noch mehr eingewickelt zu werden.
Und es uns soviel mehr gibt, wenn wir den Anderen als ebenso spannende, unverschönte, Zusatzwelt sehen können.
Die uns durch ihre von uns unterschiedlichen Aspekte bereichern wird, wenn wir sie befreit entdecken können.
Wir sind nicht dazu gemacht alleine durchs Leben zu gehen...
Zurück zu mir. Natürlich habe ich auch Erwartungen an meinen Partner, so ganz ohne geht es wohl nicht. Aber diese haben in erster Linie mit mir zu tun. Ich erwarte Toleranz, vor mir und meiner Art zu leben. Ich erwarte, dass mein Freiraum respektiert wird. Ich erwarte einen unkomplizierten Umgang miteinander. Einfach ein gemeinsames miteinander leben und leben lassen. Dafür brauche ich keine oberflächlichen Gemeinsamkeiten mehr, ob es zb die Musik, das Aussehen oder die Ernährungsweise ist.
Sehnsucht nach einem Menschen ist mir fremd geworden. Was dann nicht bedeutet, dass mir der Andere egal ist. Sondern dass ich so erfüllt von mir und meinem Leben bin, dass es auch durchaus passieren kann, dass ich mich nicht regelmäßig melde. Was ich aber wiederum von meinem Partner auch nicht erwarte. Ich baue dort auf Freiwilligkeit.
Und wenn ich feststelle, dass ich doch noch mal versuche mich am Anderen fest zu halten, forsche ich in mir nach, was da los ist. Dabei stoße ich meist auf alte Glaubenssätze, die ja bekanntlich sehr hartnäckig sind. Ich mache das dann mit mir ab, weil mir zuviel in meinem Leben aus den Händen genommen und über mich bestimmt wurde. Jetzt will ich es allein schaffen. Ich denke, ich bin erwachsen genug dafür und weiß, dass die Lösung für meine Probleme in mir liegt.
Falls mein Partner durch den Automatismus der Konditionierung von meinen Themen berührt und in sie hineingezogen wurde, spreche ich das an. Weil jeder, der damit konfrontiert wird das Recht auf eine Erklärung hat, um zu verstehen, dass nicht er oder unsere Beziehung das Problem war. Ich handhabe das so, weil das für mich auch Achtsamkeit und Authentizität im Umgang und Respekt vor meinen Mitmenschen bedeutet.
Meine Einstellung ist meine und jeder hat selbstverständlich das Recht auf seine.
Aber wäre die Welt und das Miteinander nicht Schöner, wenn jeder dem Anderen seine Freiheit und Einzigartigkeit zu gestehen könnte, ohne sich dadurch angegriffen, verletzt oder verloren zu fühlen?
©Nadine Baum
Toll geschrieben
Danke dafür
Andy